Ein völliger Gegensatz zur Ausreise aus Usbekistan war die Einreise nach Tadschikistan – wir mussten nicht einmal mehr unsere Taschen scannen lassen! Die Räder blieben draußen, nur Reisepass und E-Visum wurden von einem netten Beamten kontrolliert, der sogar etwas Deutsch konnte. So ging es flott auf die hervorragende Straße nach Duschanbe. Kurz bevor wir in die Hauptstadt hinab brausten, hielten wir kurz inne zum Fotografieren und Navigieren, da gab es von einem Wassermelonenstand schon wieder eine Gabe. Noch nie in unserem Leben haben wir so viel Melone gegessen…
In Duschanbe hatten wir uns das Hostel Latifa herausgesucht, welches mit 10 Dollar pro Nacht für zwei unheimlich günstig war, wenn auch nicht so gut gelegen wie die bei Reiseradlern beliebten, aber teureren Green House und Yeti Hostel. Vor allem wussten wir nicht, wie viele Nächte wir bleiben würden, da unser Aufenthalt hier von unserem Päckchen aus Deutschland bestimmt war. Als wir im Hostel ankamen, machte sich jedoch zunächst Ernüchterung breit. Die Zweibett-Zimmer waren nicht vorbereitet, ohne Klimaanlage kaum zu ertragen, die versprochene Gemeinschaftsküche war eine einzige Baustelle. Als man uns versicherte, das würde bis zum Abend alles fertig werden, hätten wir ihnen am liebsten den Vogel gezeigt. Doch noch während wir im Garten abwarteten, recherchierten und überlegten, was nun zu tun sei, haben wir sehr bald mitbekommen, wie bemüht die Familie war. Die 16-jährige Tochter Sara kam zu uns und erzählte uns, wie gerne sie Englisch und Deutsch lernt. Der Sohn versuchte alles, damit unser Zimmer einigermaßen gut klimatisiert wurde (zwei Ventilatoren auf einmal) und irgendwie hatten wir auch keine Lust mehr, quer durch die ganze Stadt in ein überteuertes Hostel zu fahren. So entschieden wir uns, auf jeden Fall erst mal eine Nacht zu bleiben und erst zu wechseln, wenn diese nicht auszuhalten gewesen wäre.
Dann war es schließlich soweit: Samstag früh wollten wir zur DHL Worldwide-Station, um hoffentlich unser Päckchen mit Ersatzmänteln abzuholen. Nach einer grauenvollen Fahrt durch den kranken, heißen Stadtverkehr kam schließlich die Ernüchterung. Unsere französischen Freunde hatten doch recht – sämtlichen DHL-Stationen (wie auch drei anderen internationalen Paketdiensten) wurde die Lizenz für Tadschikistan entzogen. Das Büro war geschlossen. NEEEIIIIN!!! Doch ein netter Mann übersetzte für uns die Aussage der unmotivierten Pförtner: sehr wahrscheinlich ist unser Päckchen stattdessen bei der staatlichen Poststelle am Bahnhof gelandet. In diesem Kabuff verweigerte man Samstag um 11 aber bereits jede Arbeit, alle Frauen waren am Zusammenpacken. Wir sollten Montag wiederkommen. Diese Aussage wurde so lange wiederholt, bis wir endlich von dannen zogen. Das war kein gelungener Tadschikistan-Auftakt. Nun wollten wir das sog. GBAO-Permit bei der OVIR-Stelle (Migrationsbehörde) organisieren, welches vor Ort nur umgerechnet 2,50 € im Gegensatz zu 20 $ bei der Beantragung gemeinsam mit dem E-Visum kostet. Wir würden jedem Tadschikistan-Reisenden raten, den Gang zu dieser Behörde nicht zu scheuen, auch wenn es bei uns stressiger wurde als geplant. Nachdem man uns lange unbeachtet ließ und in Seelenruhe unsere Dokumente kopierte, hieß es schließlich 10 vor 12, dass wir Montag wiederkommen sollen, weil wir ja unmöglich in der kurzen verbleibenden Zeit noch das Geld auf der Bank einzahlen konnten. Da kannte uns der Mann aber schlecht. Mit blutiger Zehe (die trockene warme Luft hat meine Haut sehr rissig gemacht) hechtete ich durch die Hitze und kam 12.03 Uhr mit dem Einzahlungsbeleg zurück. Leider hatte ich nicht bemerkt, dass ich nur für eine Person bezahlt hatte – VERDAMMT! Ich machte kurz einen auf Nervenzusammenbruch (also nicht gespielt, es war eher eine typisch spontane Graeb’sche Cholerikerreaktion), da erbarmte sich der Beamte und akzeptierte schließlich, dass wir die fehlenden Somoni direkt vor Ort bezahlten. Immerhin das hatten wir nun also erledigt. Danach organisierten wir uns bei Megafon noch eine tadschikische SIM-Karte. Der Versuch, eine neue Kette für Klaus aufzutreiben, blieb wiederum erfolglos.
Der Abend fiel dann noch sehr nett aus, wir wurden von unseren Gastgebern spontan zum Abendessen eingeladen. Bei lecker Plov (auch Osch genannt – über das ganze Land sind „Oschranas“ verteilt) lernten wir die Familie besser kennen. Wie für die Tadschiken üblich, handelte es sich um eine Großfamilie mit zahlreichen Geschwistern, Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen. Eine tadschikische Frau gebärt mindestens drei Kinder, meist sogar mehr und Polygamie ist auch erlaubt, sodass ein Mann gleich noch weiteren Damen sein Erbgut unter ehelicher Deckhaube weitergeben kann. Ein bisschen wie bei den Karnickeln… Es handelt sich also auch hier – wie bereits im Iran – um eine sehr junge Nation.
Den Sonntag nutzten wir vornehmlich zum Bloggen, einem kurzen Hüpfer in den innerstädtischen Badesee (leider recht veralgt) sowie für ein Date mit einem Fahrradmechaniker, der seine Dienste in unserer „Cycle the world“-WhatsApp-Gruppe zur Verfügung gestellt hatte. Dilshod leistete mit seinem Kumpel wirklich super Arbeit. Mit gewechselter Kette und frisch zentrierten Rädern konnte der Pamir also kommen! Aber Moment, da war doch noch was!? Genau, Montag früh ging unser erster Gang zur Post. Dieselbe Dame, die wir Samstag antrafen, dozierte uns zu einem Seiteneingang, der nun noch inoffizieller als der ganze Rest wirkte. In dieser Spelunke sollte unser Päckchen gelandet sein? War es auch nicht. Nach ewiger Warterei, während der wir immer wieder neuen Leuten mit Russischbröckchen unser Problem zu erklären versuchten, die ernüchternde Antwort: hier ist nichts. Sämtliche Kontaktaufnahmeversuche mit DHL in der Heimat führten ebenso ins Leere. Niemand konnte uns sagen, was am wahrscheinlichsten mit unserem Päckchen passiert war. Man hatte uns auf der Post noch eine Telefonnummer mitgegeben, die wir nach dem Mittag anrufen sollten. Da wir mit unserer tadschikischen Telefonkarte nur surfen konnten, schauten wir bei unserem Gastgeber vorbei, um nach seinem Handy zu fragen. Prompt wurden wir zum Mittagessen eingeladen und nach leckeren gefüllten Paprika konnten die Anrufversuche starten. Nach einer ganzen Weile auch hier die ernüchternde Antwort: kein Päckchen. Wir beschlossen, dass warten keinen Sinn mehr machte, da wir nicht sicher sein konnten, dass unser Päckchen jemals in Duschanbe ankommt.
Nach reiflicher Überlegung hatten wir uns für die längere südliche Zufahrt ins Pamir-Gebirge entschieden, auch wenn viele Radler die Nordroute aufgrund der landschaftlichen Schönheit empfehlen. Ausschlaggebend für uns war jedoch der offenbar deutlich bessere Straßenbelag – immerhin würden wir uns in den kommenden Wochen noch Genug über Schotter, Kies, Sand und Wellblechpisten quälen. Tatsächlich wurden wir nicht enttäuscht. Am ersten Tag führte uns der Weg direkt ins Gebirge, mit tollen Panoramen, zwei Tunneldurchfahrten (auf denen man sich freilich nicht besonders wohl fühlt, aber man muss nur ständig an die eingesparten Höhenmeter denken und sich freuen) und einem wunderschönen Wasserreservoir in den Bergen. Das Nurek Wasserreservoir war das größte des Landes und deckt den Großteil des tadschikischen Strombedarfs. Kurz darauf schlugen wir das Zelt auf, bevor es wieder hinab in die heiße Tiefebene gehen sollte.
Der zweite Tag führte uns tatsächlich durch landschaftlich wenig berauschende und heiße Abschnitte bis Kulob. Unterwegs wurden uns aber alle Nase lang Obst und Gemüse geschenkt und wir empfanden die Tadschiken als wirklich nettes Völkchen trotz ihrer offensichtlichen Armut. Leider blieb dieser gute Eindruck bei der Hotelsuche in Kulob nicht bestehen. Das erste war in fürchterlichem Zustand und dafür viel zu teuer. Das zweite machte deutlich mehr her und sollte nur 100 Somoni (= 10 €) kosten. Die Putzfrau zeigte mir das riesige, gut ausgestattete Zimmer (Wasserkocher! Ein Untensil, über das wir uns sehr freuen) und wir willigten ein. Beim Check-in wurden jedoch auf einmal 150 Somoni verlangt, da es ja das Luxuszimmer sei. Ah ja, gut dass wir uns nicht vorher über den Preis verständigt hatten. Nach dem langen schwitzigen Tag hatten wir keine Lust, zu diskutieren. Dafür sparten wir beim Abendessen ein, da wir aufgrund von Magenproblemen meinerseits (die Kombination aus viel zu viel Wassermelone und Cola nahm mir mein Körper übel) mit Instantsuppe vorliebnahmen.
Wirklich aufregenswert war der Umgang mit uns am nächsten Morgen. Mein Russisch reicht wahrlich aus, um mich nach Frühstück zu erkundigen und die Dame am Vortag hatte mir als Uhrzeit sogar um 7 aufgeschrieben. Punkt 7 schickte uns jedoch ein unmotivierter dümmlicher Rezeptionist zum Speisesaal, der verschlossen war. Daraufhin versuchte uns das Dummbrot auf der Uhr um 8 anzuzeigen. Wir insistierten, dass man uns um 7 gesagt hatte. Dann hieß es auf einmal, es gäbe gar kein Frühstück. Schließlich kam die Uschi vom Vortag und wollte uns vermitteln, dass man für Frühstück extra zahlen müsste. Da Diskutieren mit diesen Trotteln keinen Sinn machte, denn sie verstanden nicht ein einziges Wort Englisch, packten wir unsere Sachen und gingen. Leider merkt man auf der Strecke doch gewaltig, ob man ein gutes Frühstück im Bauch hat oder nicht. In einem Zustand von Dauerhunger quälten wir uns einen Pass hinauf – über 1000 Höhenmeter am Stück mit immer schlechter werdendem Belag. Die einzige Wasserquelle auf dem Weg war versiegt, sodass wir quasi mit den letzten Tropfen im Dorf Shuroabad ankamen. Aber hier wurde es dafür richtig schön – eine kilometerlange frisch geteerte Abfahrt ins Tal, bei der wir ständig anhalten und Fotos schießen mussten. Von nun an sollte der Panj, der Grenzfluss zwischen Tadschikistan und Afghanistan ein stetiger Begleiter sein, genauso wie die Passkontrollen bei jedem Bezirkswechsel und die patrouillierenden Soldaten am Straßenrand.
Die kommenden Kilometer genossen wir auf aalglatter Straße bei welligem Profil den Blick in die übermächtigen Berge zu unserer Linken und Rechten. Als wir eigentlich noch vorhatten, mindestens ein Stündchen zu radeln, fing uns ein junger Mann am Straßenrand ab. Es war Abdurahman, Kurzform Alik, Englischlehrer des Dorfes, der bereits von seiner Mutter über zwei Reiseradler informiert wurde, die bald hier lang fahren müssten. Sie hatte uns vom Auto aus gesehen. Er nutzt jede Gelegenheit, um Englisch zu üben und schnappt sich quasi die Touristen, egal ob Fahrrad- oder Motorradfahrer, von der Straße weg, um sie zu sich nach Hause einzuladen. Für uns war das natürlich die Gelegenheit, tadschikische Lebensart mal über die Hand-Fuß-Kommunikation hinaus kennenzulernen und so willigten wir ein. Wichtig war ihm zunächst, dass wir Arme und Beine bedeckten, da wir hier in einem relativ streng muslimischen Haushalt gelandet waren. Dennoch war der Aufenthalt sehr angenehm, denn Alik ließ uns genügend Freiraum. Das Schwierige an Einladungen ist schließlich jedes Mal, dass man die ersehnte Ruhe einer Zeltnacht in der Natur gegen die komplette Aufmerksamkeit des Gastgebers tauscht. Erst zum Abendessen gesellte sich Alik zu uns, seine Frau hatte lecker gekocht. Zwischendurch rief er noch einen Freund und seinen Bruder an, damit diese auch ihr Englisch mit uns üben konnten. Mit seinen 25 Jahren sah sich Alik in seinem Dorf jedoch in einer Art beruflichen Sackgasse ohne Möglichkeit zur Weiterentwicklung, sodass er gern nach Duschanbe ziehen wöllte. Was seine Frau und seine zwei Söhne davon hielten, dazu sagte er nichts. Aber wir würden diese landschaftliche Schönheit an seiner Stelle nicht gegen den Stadtmief eintauschen wollen. Andererseits wäre das womöglich die Chance zur Emanzipation für seine Frau. Denn hier auf dem Dorf war das Schicksal vorgezeichnet: direkt nach der Schule wird geheiratet, Kinder gezeugt und sich von da an nur noch um Haus, Hof, Kinder, Mann und womöglich noch (Schwieger-)Eltern gekümmert. Im Bestfall ist man dann nur eine unter mehreren Ehefrauen… Wir sollten noch viele viele junge hübsche Frauen sehen, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob sie dieses Leben selbst gewählt oder sich einfach ihrer Rolle gefügt haben.
Halb 6 wurden wir durch ein regelrechts Zwitscherkonzert in dem riesigen Baum, unter dessen Krone wir schliefen, geweckt. Natürlich ließen es sich die gefiederten Freunde nicht nehmen, großflächig auf uns und unsere Taschen runter zu kacken – Gott sei Dank in recht fester Konsistenz. Da Alik darauf bestand, uns Frühstück zu servieren (Spiegeleier und Bratkartoffeln – mittlerweile haben wir uns aber an die deftigen Frühstücke gewöhnt), kamen wir nicht so zeitig los wie gewollt. Aber wir hatten trotzdem genügend Zeit, um die nun folgende sagenhafte Strecke zu genießen. Die Straße war perfekt asphaltiert und wellte sich stetig entlang des rauschenden Panj entlang, mal sanft steigend, mal brutal steil herausfordernd. Einmal war die ursprüngliche Straße auch komplett weggespült, was die immensen Naturgewalten, die in diesem schroffen Hochgebirge wirkten, ganz gut veranschaulichte. Bald merkten wir, dass wir so fix unterwegs waren, dass wir es in einem Tag bis Kalaikhum schaffen konnten. 30 km vorm Ort wurden wir allerdings je gebremst, da hier anscheinend sämtliche Straßeninstandhaltungs- bzw. Erneuerungsmaßnahmen gestoppt wurden. Schade. Von nun an begann das Pamir-Feeling mit weg gebrochenem Asphalt, Schlaglöchern, Sand und Geröll. Spaß macht das nicht, aber gehört eben zum Programm. Man kommt dabei nicht nur schlagartig gefühlt kaum mehr voran, sondern kann nur noch selten den Blick vom Belag heben, um die einzigartige Landschaft zu genießen.
In Kalaikhum angekommen, wollten wir das Homestay Roma ansteuern, das romantisch am Fluss lag. Hier war jedoch gerade französische Kleinbusinvasion („Ohhhh – une cycliste!“) und man konnte uns nur so etwas wie eine Abstellkammer anbieten – nein danke. Sofort wurden wir vom Nachbar-Homestay aufgegabelt und als wir uns unschlüssig waren, kam der Herr Roma dazu und meinte „this is my brother“, so nach dem Motto ob nun hier oder da, es wäre eine Familie. 15 Dollar mit Abendessen und Frühstück hieß es. Na gut, es ist zwar ganz schön heruntergekommen, aber bei dem Preis wollen wir nicht meckern… Nur dass man uns nicht sagte, dass das der Preis für eine Person ist. Abzocker! Wenn wir überlegen, wo wir in Usbekistan für 20 Dollar übernachtet haben… Und die Mahlzeiten hätten wir besser gar nicht in Anspruch nehmen sollen. Weder waren sie wirklich lecker noch gesund, aber dazu gleich mehr.
Nach einer ausgiebigen Wasserfilteraktion am Morgen starteten wir erst um 8 am Guesthouse und brachten eine weitere Stunde im Ort damit zu, uns die lebensnotwendigen Dinge für die nächsten Tage zu besorgen. Frisches Brot zu bekommen war dabei die größte Herausforderung. Rückblickend muss man sagen: zum Glück haben wir so lange gebraucht und sind noch nicht weit gekommen, als mein Magen begann, sich seltsam anzufühlen. Erst dachte ich, die Kombination aus dem üblichen Fett-Frühstück (= zwei verschrumpelte kleine Würstchen + zwei Spiegeleier in einem gefühlten Liter Öl gebraten) und der holprigen Straße hätten einfach nur zu viel durcheinandergebracht. Nach zwölf Kilometern bat ich Klaus um eine kleine Ruhepause, damit der Tumult im Bauch sich wieder legen konnte. Doch anstatt besser zu werden, rumorte es nur noch mehr. Was sollte das denn jetzt? Klaus entdeckte ein riesengroßes in Terrassen angelegtes Grundstück mit Obstbäumen, Tomatensträuchern und einem kleinen Wasserlauf… eigentlich ein richtig paradiesischer Ort, den wir jedoch in nicht allzu romantischer Erinnerung behalten sollten. Dann wurde es richtig dünne. Durchfall, alle paar Minuten. Doch nie brachte er Linderung, die Beschwerden wurden nur schlimmer. Schließlich, nach Stunden der Qual das Grande Finale: ich erbrach mich in einem Schwall, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mehrfach. Selbst das Schlückchen Tee suchte umgehend wieder den Weg nach draußen. Dagegen ist ein Magen-Darm-Infekt ja eine Wohltat. Mein Mund war komplett ausgetrocknet und ich wusste, ich konnte nichts trinken, ohne mich wieder zu erbrechen. Es war grauenhaft. Bald kam der Grundstückseigentümer, ein junger Familienpapa, dem Klaus schließlich unser Leid darlegte – ein super Einsatz für unser Zeigewörterbuch! Er rief für uns einen Krankenwagen, dachten wir zumindest. Auf einmal kam ein Jeep und wir sollten einsteigen. Es ging hoch ins Dorf Khevron, wo seine Frau dazu stieg. Sie könne Englisch und für uns bei der Ärztin übersetzen. Tatsächlich konnte sie nur Fetzen und als wir bei einem Abendbrot essenden Weiberhaufen eintrafen, konnte sie uns auch nicht so viel mehr erklären, als wir mit unseren Russisch-Basics nicht eh verstanden hätten. Der Essensgeruch war nicht zum Aushalten und eine dicke Frau (die Dorfärztin) kam mit einem Tütchen Regidron und einer Tüte Tabletten aus dem Haus. 15 Somoni, bitte, danke, schnell weg. Unsere Obstplantagenbesitzer wollten, dass wir bei ihnen im Haus übernachteten, doch wir wollten gern unsere Ruhe. Gerade an unserer Zeltstelle ausgestiegen, kam nun doch noch der Krankenwagen. Diese Gelegenheit ließen wir uns nicht entgehen. Free ride to Kalaikhum hospital! Anschnallen und los geht’s. Nee, mit Anschnallen war natürlich nix in der alten Möhre, die uns dermaßen durchrüttelte, dass ich es als reines Wunder empfand, nicht wieder irgendwas von mir zu geben. Aber wahrscheinlich war bereits alles raus. Es war nun bereits dunkel, als mich die lieben Schwestern empfingen. Es bedurfte keiner langen Erklärungen, man war sowas hier sicherlich gewöhnt. Ich kam an den Tropf und als man uns nach „gastinica/hotel“ fragte, bettelten wir, doch bitte hier schlafen zu können. Es war zwar die Art Krankenhaus, die man von Fernsehbildern aus Dritte-Welt-Ländern kennt und wo man sich immer denkt „Hauptsache nie dort landen“, doch weder wollten wir unnötig Geld in einem Hotel lassen, noch wollte ich weg vom behütenden Auge des Krankenhauspersonals. Ein Arzt kam noch zur Begutachtung, ließ mich noch zwei Pillen schlucken und dann war Nachtruhe angesagt.
Nachtruhe bedeute auf der Frauen-Kinder-Station natürlich lediglich, dass das Licht ausgeschaltet wurde, nicht dass Ruhe herrschte. Kranke Babys können ganz schön Rabatz machen, wenn sie leiden. Und die Schwestern, die sich mit uns das Zimmer teilten, mussten anscheinend auch alle paar Stunden nach dem Rechten sehen. Früh am Morgen erneute Visite, und als ich von meinem Gang aufs unsägliche Plumpsklo (eines der übelsten der Reise, danach auch keine Seife o.ä. verfügbar) berichtete, ließ man mich gleich nochmal Medizin schlucken. Das Fieberthermometer zeigte 37,4 °C, was ich nicht weiter bedenklich fand – es war auch einfach mega warm in der Nacht. Trotzdem kam prompt eine Spritze in den Po und die nächste Infusion in meine Venen. Der junge Arzt hatte mittlerweile eine äußerst junge Schwester aufgetrieben, die etwas Englisch konnte. Bei der Frage, wie wir jetzt nur nach Khevron kämen, meinten wir „hitchhiken“, was man nicht verstand. Darauf meinte sie „If you take taxi, not more than 20 Somoni. They want to have more, because you are tourists. But Tajik people are bad people“. Keine fünf Minuten später bot man uns an, dass uns der Krankenwagen fahren könne – für 40 Somoni! Na gut, wir hatten eine kostenlose Übernachtung. Beim Fahrer angekommen hieß es „You have to give him 50 Somoni“. Ah ja, bad people also… Nach einer erneut holprigen Fahrt, bei der ich einmal mehr froh war, dass wir per Fahrrad über diese Straßen reisen, bezogen wir wieder unser Lager unter Obstbäumen. Zelt samt Taschen und Fahrrädern waren noch da. Entweder wir waren gut genug versteckt oder die Tajik people sind gar nicht so bad. Den restlichen Tag verschlief ich weitestgehend, während Klaus sich emsig um alles kümmerte.
Nach diesem Ruhetag fühlte ich mich einigermaßen fit, um weiter zu fahren. Die Straße blieb in dürftigem Zustand, in den Dörfern rannten Kinder auf uns zu, kreischten „hello“ und versuchten uns abzuklatschen. So freudig das Ganze gemeint ist, so negativ geprägt war ich durch eine Abklatschaktion in Armenien, wo mich ein Junge so heftig erwischt hatte, dass es nicht nur weh tat, sondern ich beinahe aus dem Gleichgewicht gekommen wäre. Ich hatte mir also geschworen, nie mehr für ein Kind die Hand auszustrecken. Zumal es bei diesen Holperpfaden eh besser ist, beide Hände fest am Lenker zu haben. Nachdem wir gegen 16 Uhr eigentlich einen perfekten Zeltspot mit Bergpanorama passierten, wir uns aber noch fit zum Weiterradeln fühlten, zog sich die Straße nur noch durch eine ewige enge Felsenschlucht. Zelt aufschlagen wie es uns beliebte war also nicht drin und so radelten wir doch weiter als ich es mir in meinem Zustand zumuten wollte. Oberhalb der Straße fanden wir bei ein paar Ziegenhirten ein ruhiges Plätzchen und starteten einen Plov-Koch-Versuch, der eher in Risotto mit Möhren endete. Wir hatten Rundkornreis gekauft (der einzige Reis, den es im Magasin gab), der zwar super lecker ist, nur leider ewig zum Kochen braucht. Aber mittlerweile hatten wir unseren ersten Liter Nachschub-Benzin für den Brenner organisiert, da passte das schon.
Der Weg setzte sich nun extrem wellig fort, doch wandelte sich nach jeder Biegung des Panj die Landschaft, jedes Dorf hatte seinen eigenen Charakter und unser Temperaturempfinden schwankte im Tagesverlauf enorm. Während wir früh mal wieder richtige Kühle empfanden, brannte die Sonne ab dem Mittag erbarmungslos darnieder. Nach einer eigentlich wunderschönen Mittagsrast ging es mit meiner Form erneut bergab. Vermutlich war irgendwas an meiner Schonkost doch nicht so gut. Weigerte sich mein Magen, das altbackene Brot zu verdauen? Oder war es doch diese abgepackte Biskuitrolle, die an sich erst mal nur pupstrocken war, bei der wir aber im Nachhinein die Jahreszahl „2014“ auf der Verpackung fanden – egal ob Produktionsjahr oder Mindesthaltbarkeitsdatum, uns drehte sich der Magen um. Nicht weiter darüber nachdenken… Dennoch war am Nachmittag Ende Gelände. Mal wieder zog es uns auf eine Plantage, lustigerweise ausgerechnet auf das Grundstück des Opas, den wir von der Straße her kannten. Ein paar Kilometer zuvor war er dafür zuständig, dass sich kein Auto auf tadschikischer Seite ausgerechnet auf Höhe der Felssprengarbeiten direkt gegenüber auf afghanischer Seite befand. Ein lustiger Kauz, der uns von seinem Anwesen auch noch einen Berg Tomaten brachte. Ausgerechnet Tomaten, sonst so geliebtes Gemüse und nun Inbegriff von Vergiftung, zumindest in rohem Zustand. Nach einem langen Nachmittagsschläfchen musste Klaus sich seine Nudeln alleine kochen, bei mir war immer noch nicht viel los.
Erst nach der Nachtruhe fühlte ich mich wieder vital und konnte Klaus die Bedenken vom Vortag aus dem Kopf schlagen, dass wir nun doch ein Taxi nach Khorog nehmen müssten. Es wäre auch jammerschade gewesen, denn heute sollten wir gleich drei sympathische Radler kennenlernen. Jan, der Norweger, kam uns als erstes entgegen, relativ dicht gefolgt von Brian aus Utah. Jan war ja schon nicht der Jüngste, aber vor Brian mit seinen 66 Jahren zücken wir einfach nur den Hut. Schließlich erreichten wir einen wunderschönen Abschnitt der Straße, denn – man traut es sich kaum zu sagen bei der landschaftlichen Imposanz – irgendwann hat man auch genug von der Enge der Schlucht und wünscht sich etwas mehr Freiheit. Daher genossen wir es, als sich die Panj-Schlucht zu einem breiten Tal weitete. Bei unserer späten Rast nach 50 km holte uns Ciaran aus Irland ein, mit dem wir einen langen Plausch genossen. Er war sich hinsichtlich der Streckenwahl vollkommen unschlüssig: Wakhan, M41 oder Bartang-Tal? Er hatte jedenfalls nur zwei Wochen Zeit, um nach Osh zu kommen. Dass er das schaffen würde, daran hatten wir keinen Zweifel, war er doch von Duschanbe bis zu dieser Stelle innerhalb von fünf Tagen gekommen – und das, obwohl er die Nordroute gewählt hatte! Wir hatten alleine vier Tage nach Kalaikhum über die Südroute gebraucht und haben da schon ordentliche Etappen absolviert. Kurz nach dem enttäuschenden Rushan (in einem größeren Ort hofft man ja doch auf ein paar bessere Einkaufsmöglichkeiten) stand die Zeltplatzsuche an, die in einer perfekt gestutzten Wiese direkt am Panj mündete. Die meisten Tomaten hatten den Transport sogar überlebt, sodass es als Tagesbelohnung ein leckeres Tomatenrisotto gab. Nur die Billig-Cola aus dem letzten Magasin, die war leider echt widerwärtig…
Trotz der mittlerweile frischen Morgen schafften wir es nun immer zeitiger zu starten. In dieser kühlen Luft fiel das Radeln nicht nur leichter, sondern auch die Dörfer lagen meist noch verschlafen da. Die Sonne tauchte das Tal in ein besonderes Licht, das sich mit der Kamera manchmal schwer einfangen ließ. So blieb „nur“ radeln und genießen. Schon bald, wenn die Sonne höher stand und alle erwacht waren, kamen die ersten Kinder angekreischt. Eines hockte gerade im Garten mit entblößtem Po fertig zum Geschäft und schrie nichtsdestotrotz um unsere Aufmerksamkeit. Nicht so lustig war der kleine Bub, der vor Klaus noch irgendwie die Straßenseite wechseln wollte und dabei unsere Geschwindigkeit vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Ein kleiner Schreckmoment, wenn man so einen Knirps beim eigenen Ehemann quasi schon ins Rad rennen sieht. Aber Klaus ist ja flink in seinen Reaktionen und so blieb es beim Schrecken auf beiden Seiten. Nachdem mir tags zuvor schon ein abklatschfanatischer Junge dumm auf den Arm geschlagen hatte, würden wir uns dennoch wünschen, dass die Eltern ihren Kindern beim Umgang mit Touristen ein bisschen Zurückhaltung beibringen würden. Kulinarisches Highlight des Tages waren die ersten Pieroschki seit Armenien (im Prinzip mit Kartoffelbrei gefüllte, in Fett ausgebackene Teigtaschen) – frisch gebacken von einer lieben Mutti in ihrem Magasin. Spottbillig waren die Dinger noch dazu. Gut gestärkt erreichten wir das Khoroger Stadtgetümmel. Als Hauptstadt der Region Gorno-Badakhshan ist Khorog am Zusammenfluss von Panj, Ghund und Shakhdara mit seinen 30.000 Einwohnern quasi neben Murghab die „Metropole“ des Pamir. Sogar eine Universität gab es und überhaupt hatten sich hier recht autonome Strukturen entwickelt wie wir lasen – einfach als Notwendigkeit im Zuge der Isolation während des tadschikischen Bürgerkrieges in den 1990er Jahren.
Zunächst offenbarte die Stadt wenig Charme. In einem Endlos-Stau rollten wir über die Lenin-Straße vorbei an maroden Häusern, dem Basar, unzähligen Magasins, und der ein oder anderen Unterkunft. Das uns von Brian empfohlene Hotel fanden wir nur nach langen Umwegen und Fragerei, um dann leider eine sehr heruntergekommene Absteige vorzufinden. Würde man als Radler abends ankommen und am nächsten Morgen früh abhauen, wäre das ja zu ertragen, doch es war gerade Mittag und wir wollten hier nun beinahe 48 Stunden verbringen – nein danke. Dazu noch feste Zeiten für’s Internet, nur morgens und abends. Und geschenkt gibt es marode Spelunken auch hier nicht. Also grasten wir weiter Google Maps ab und stießen auf das Hotel Kivikas. Hier wollte man zunächst 50 Dollar, wir konnten auf 40 pro Nacht herunterhandeln. Teuer, ABER der Raum war traumhaft und das Bett eine Wonne. Nachdem man so etwas gesehen hat, möchte man eigentlich auch nicht weitersuchen. Da wir die letzten Tage fast nichts ausgegeben hatten, beschlossen wir, dieses Mal nicht wieder an der falschen Stelle zu sparen. Was uns das in Kalaikhum eingebracht hat, durfte ich mir ja anschließend intensiv durch Kopf und Darm gehen lassen… Zur Feier des Tages gingen wir auch seit langem mal wieder aus, so richtig genießen. Nach einer Brot-Reis-Nudel-Diät gab es heute: Brot und Reis! Aber nein, nicht irgendwelches Brot und Reis. Wir beehrten den hiesigen Inder und genossen Gemüse-Massala und Hühnchen begleitet von Zira-Reis und Paratha.
So richtig lang geschlafen haben wir an unserem Ruhetag nicht, da es durch die Morgensonne im Zimmer zu grell war. Das Frühstück war eine positive Überraschung im Vergleich zu den gängigen Fett-Wurst-Spiegelei-Rationen und so konnte gut gestärkt der Stadtbummel beginnen. Primär wollten wir uns mit Medizin und Lebensmitteln eindecken. Unsere Trockenhefepillen (die schonende Alternative zu den radikalen Imodium bzw. Teramodium) gab es leider in keiner „Apteka“, dafür bekamen wir aber die erhofften Vitamintabletten, da wir demnächst ernsthaften Nährstoffmangel befürchteten. Sei es, weil wir aus Vorsicht rohes Obst und Gemüse kaum noch antasten würden oder weil es schlicht weg nichts anderes gibt. Was wir uns aber auf jeden Fall trauten: Bananen! Die ersten Bananen seit einer Ewigkeit, welch Wonne! Ähnlich wie Nutella hatten wir diese von unserem Speiseplan entfernt, weil sie in den Stans zu teuer sind. Aber heute war Genusstag. Passend dazu hüpfte ich in den überraschend sauberen und kalten Badesee, der mitten im hübschen Stadtpark gelegen ist. Klaus zog ein Nickerchen am Mini-Strand vor. Zum Abschluss gönnten wir uns ein weiteres Abendessen beim Inder und auf dem Weg zurück blinzelten wir sogar noch ins Fußballstadion hinein, wo gerade das Finale des Tajik Cups ausgetragen wurde. Die Zuschauer waren ausschließlich Männer, die mit Leib und Seele lautstark mitfieberten. Ein lustiger Anblick für uns Touristen. Resümierend können wir festhalten: Khorog ist ein interessantes (Studenten-)Städtchen, mit aufgeschlossenen, freundlichen Einwohnern, guten Versorgungsmöglichkeiten auf dem Weg in die raue Gebirgswelt und allerlei Möglichkeiten zum Zeitvertreib.
Oh ja, da kann ich Bibi nur beipflichten. 9/10 Punkte für diesen Tatort.. unverständlich. Euer Text hingegen hat mich in den Südosten gebeamt und das Gefühl war sofort wieder da, euch ein Stück zu begleiten – auch nach eurer Rückkehr. Herzlich gelacht habe ich bei folgendem Satz: „Ich machte kurz einen auf Nervenzusammenbruch (also nicht gespielt, es war eher eine typisch spontane Graeb’sche Cholerikerreaktion)“ ich glaube, ich weiß genau, was du meinst 🙂
Euer Text gerade war definitv tausenmal interessanter als der Tatort!!!!! 🙂
Haha, danke!